Heile, berührte Natur

Texte: Nicole Häfliger

Die natürliche Sukzession: Lässt man der Natur bei uns ihren Lauf, führt dies zu einem dichten, dunklen Wald.

 

Kulturlandschaften

Ist landläufig von heiler, unberührter Natur die Rede, ist genau diese selten gemeint. Im Gegenteil. Die heraufbeschworenen Bilder repräsentieren meist ländliche Landschaften, die uns heil erscheinen, weil vor- oder frühindustriell, sie sind jedoch berührt – von Menschenhand. Die Rede ist von Kulturlandschaften, historischen, um genau zu sein. In diesen durch bäuerliche Landnutzung geprägten Landschaften findet sich eine beeindruckend hohe pflanzliche und tierische Artenvielfalt. Mehr noch: Diese Vielfalt ist deutlich höher als jene in wirklich «heiler», weil unberührter Natur. Lässt man nämlich die Natur nach deren Lust und Laune walten, führt das in unseren Breitengraden auf direktem Weg zu einem dichten, dunklen Wald. Mit anderen Worten: zu einer «natürlichen Monokultur» aus wenigen, sehr konkurrenzstarken Pflanzen- und dementsprechend wenigen Tierarten. 

Statt den Menschen und seinen Einfluss auf die Natur als ausschliesslich feind- und schädlich zu sehen, kann man ihn auch einfach als das wahrnehmen, was er ist: Ein Teil eben dieser Natur und – sofern er mit offenen Augen, etwas gutem Willen sowie gesundem Menschen- und Naturverstand durch die Welt geht – nicht zwingend ein schlechter. In den folgenden drei Beispielen sorgte er jedenfalls für nichts Geringeres als ebendies: für heile, weil berührte Natur.

Alp

Die für Touristen wohl typischste Schweizer Kulturlandschaft lässt an Heidi, schwingende Hosenträger-Träger, rollende Käselaibe und in der Sonne blinzelndes Braunvieh denken. Historisch gesehen ist das Klischee zutreffender und die Alpnutzung älter, als man meinen könnte. Bereits 5000 v. Chr. zogen Schafhirten auf Wiesen oberhalb der Baumgrenze. Der Hauptgrund ist bis heute derselbe: Erschliessung von zusätzlichem Weideland. Immer wichtiger wurde dies ab dem Spätmittelalter und der neuen Wirtschaftsweise: Der Ackerbau beschränkte sich aufs städtische Umland, in Randgebieten wich er aufgrund des zunehmenden Exports von Käse und Vieh der Viehwirtschaft. Die Professionalisierung der Käseherstellung brachte einen neuen, höchst angesehenen und fürstlich entlöhnten Berufsstand, das Sennentum. Gerne stellten die selbstbewussten Sennen ihre auf der Alp trainierte Kraft und Fitness zur Schau, etwa beim Schwingen, Steinstossen oder Fahnenwerfen. Oder beim Baumfällen – denn um an mehr Nutzland zu gelangen, wurde Wald gerodet. 

Die Rodungen und extensive Beweidung (nur sommers und mit wenig Viehbesatz wegen der kargen Böden) schufen über all die Jahrhunderte neue Lebensräume und ökologische Nischen, so dass die Artenvielfalt dank menschlicher Eingriffe zunehmen konnte. Heute jedoch ist sie bedroht – durch die Klimaerwärmung und die anhaltende Abwanderung aus den Alpregionen.

 

Weinberg

Den Rekord an Artenreichtum bricht ein Weinberg zwar nicht, aber auch er bietet einzigartige ökologische Nischen. Die kleinteiligen Strukturen, die Spontanvegetation zwischen den Reben und das milde Klima fördern Arten, die ansonsten fast völlig verschwunden sind. Ein Beispiel dafür sind die Weinbergterrassen in Lavaux, seit 2007 UNESCO-Welterbe. Schon im 11. Jh. wurde an diesen Steilhängen mit den «drei Sonnen» Wein angebaut. Neben der Sonne am Himmel sind damit die Wärmespeicher See und Mauern gemeint. Davon profitieren insbesondere Amphibien und Reptilien wie die gefährdete Vipernatter. Und auch unter den 300 Arten spontan auftretender Pflanzen findet sich Seltenes wie der Wald-Igelsame (Hackelia deflexa) oder die Acker-Ringelblume (Calendula arvensis)

Übrigens: Eine 2022 veröffentlichte Studie der Universität Bern wies die höchste Biodiversität in biologisch bewirtschafteten Rebbergen, eine etwas geringere im biodynamischen und die geringste im konventionellen Anbau nach.

 

Mittelwald

Heute kennt ihn kaum jemand mehr, was nicht überrascht. Frühere Schweizer Mittelwälder sind, da nicht mehr als solche bewirtschaftet, im 20. Jahrhundert zu geschlossenen dunklen Wäldern verwachsen. Ein Jammer, denn die einst beliebte Waldnutzungsform gehört zu den artenreichsten Kulturlandschaften überhaupt. Ein Mittelwald besteht aus einer unteren «Hauschicht»: Stockausschlagende Arten wie Hainbuche, Linde oder Bergahorn werden periodisch alle 20 bis 30 Jahre auf den Stock gesetzt für Brennholz. Das «Oberholz» besteht meist aus Eichen, Buchen oder Tannen und wird alle 80 bis 180 Jahre geschlagen für Bauholz. Zusätzlich wurden Mittelwälder als Weide für Schweine genutzt bzw. die Eicheln für die Mast gesammelt. Ob Schweine wieder durch Schweizer Wälder streifen werden, ist fraglich, der Mittelwald aber kehrt zurück. An verschiedenen Orten in der Schweiz sind schon länger Bestrebungen im Gange, Wälder Schritt für Schritt in diese Nutzungsart zurückzuführen. Mit Erfolg. Im Winterthurer Hardholz etwa verdoppelte sich die Anzahl Pflanzenarten – bereits innerhalb des ersten Jahres.

Die Artenvielfalt in Kulturlandschaften ist deutlich höher als jene in wirklich «heiler», weil unberührter Natur.
 
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