Samen für die Zukunft

Pflanzen gehören nicht nur gesammelt, sondern auch sicher gelagert – gerade dann, wenn sie als Referenz für die Forschung dienen oder kommende Generationen ernähren sollen. Doch die Anlage solcher für die Biodiversität entscheidenden Sammlungen ist trickreich.

Texte: Olaf Bernstein

Die Meta-Bank

Auf den ersten Blick wirkt es, als wäre ein futuristisches Raumschiff im ewigen Eis gestrandet: das «Global Seed Vault» auf der norwegischen Insel Spitzbergen. Hier, 80 Meter tief im Berggestein des Permafrostbodens, liegt die Temperatur konstant bei 18 Grad unter Null. Im Gewölbe lagert das Samenerbe der Menschheit: die grösste Sammlung an Fruchtpflanzensamen weltweit. Über 1 250 000 Exemplare aus 99 nationalen Samenbanken sind dort untergebracht – über 6000 Arten.

 

Jedes Land hat das Recht, in Spitzbergen ein Back-up seiner Pflanzendatenbanken anzulegen. Die Pflanzensamen verfeindeter Länder wie Nord- und Südkorea lagern hier friedlich nur wenige Meter voneinander entfernt, sicher eingeschweisst in Aluminiumtüten. Nur genveränderte Pflanzen sind laut norwegischem Recht nicht gestattet. Im Falle eines Krieges oder nach grossen Umweltkatastrophen sollen die Duplikate sicherstellen, dass die wichtigsten Kulturpflanzen, welche die Menschheit in den letzten 10 000 Jahren gezüchtet hat, erhalten bleiben.

 

Finanziert wird das Projekt in der abgelegenen Region von der norwegischen Regierung. Und noch einen Vorteil hat die Inselgruppe: Durch das 1920 verhandelte Spitzbergen-Abkommen haben derzeit 46 Länder das Recht, gleichberechtigt die Ressourcen zu nutzen. Militär darf dort nicht stationiert werden – ein sicherer Hafen für die Samen der Welt.

 

Die Arche Noah der Pflanzenwelt

Einst von Queen Charlotte etabliert, sind die Royal Botanic Gardens in Kew weit mehr als eine Gartenanlage mit einer enormen botanischen Bibliothek. Sie betreiben die «Kew’s Millennium Seed Bank» in Wakehurst. Das Unterfangen ist enorm: Hier findet sich die vielfältigste Sammlung an Wildpflanzensamen der Welt: rund 2 400 000 Samen von fast 40 000 Arten – Tendenz steigend. Damit lagern hier gut 20 % der weltweiten Flora – eine botanische Arche Noah.

 

In Tiefkühlkammern wird ständig nach neuen Wegen gesucht, die pflanzliche Vielfalt der Welt für die Zukunft zu bewahren. Doch das ist nicht einfach: Die Forschenden in Kew schätzen, dass sich die Samen von circa 36 % aller gefährdeten Pflanzenarten nicht einfrieren lassen und deshalb nicht ex situ, also abseits ihres Ursprungsortes, aufbewahrt werden können. Die Expert*innen unter John Dickie, dem Leiter der Samen- und Laborsammlungen in Kew, arbeiten deshalb an neuen Aufbewahrungsmethoden wie der Kryokonservierung. Dabei werden die Keimlinge aus den Samen extrahiert und bei minus 196 Grad in Flüssigstickstoff aufbewahrt.

 
 

Samen für 8 Billionen Dollar

In einem verfallenden Palastgebäude in St. Petersburg befindet sich das Wawilow-Institut. Ohne seinen Namensgeber, Nikolai Wawilow, gäbe es heute internationale Samenbanken wie das «Global Seed Vault» nicht. Denn sein Institut beherbergt die älteste Genbank für Pflanzen. Mehr als 320 000 Samen finden sich dort – ein Grossteil davon nur hier. Um in der Zukunft Hungersnöten zu begegnen, suchte Wawilow nach besonders widerstandsfähigen Pflanzen. Nach seiner «Theorie der Genzentren» stammten fast alle Nutzpflanzen aus eng begrenzten Weltgegenden, dort, wo die Biodiversität ihrer Wildformen besonders hoch war. Der Forscher sammelte umsichtig, denn er ahnte, dass die genetische Gleichförmigkeit vieler moderner Nutzpflanzen ein grosses Krankheitsrisiko barg. Dank der im Institut gesicherten Samen haben viele ältere und resistente Sorten überlebt. Dieser botanische Schatz wird von der Weltbank auf 8 Billionen Dollar taxiert.

 

Sturer Visionär

Nikolai Iwanowitsch Wawilow (1887–1943)

Der Botaniker und Genetiker war seit den 1920er-Jahren der Direktor des «Allunionsinstituts für Angewandte Botanik» in Leningrad. Er beschrieb das «Gesetz der homologen Reihen», welches, vergleichbar mit dem Periodensystem der Elemente, zukünftige Züchtungsformen bei Pflanzen vorhersagen konnte. Mit seiner Forschung und seiner Sammlungstätigkeit in 64 Ländern wurde er zum Vordenker im Bereich der Biodiversität. Wawilow wurde, als Opfer des stalinistischen Terrors, zum Tode verurteilt. Dass seine Sammlung bis heute überlebt hat, ist nur seinen mutigen Kolleg*innen zu verdanken. Im Zweiten Weltkrieg hungerten die Leiter der Abteilungen lieber bis zum Tod, als ihre Reis- und Erdnuss-Samensammlungen anzutasten.

 
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