Dem Igel auf der Spur

Ortstreue Wesen

Einst lebte der Igel in abwechslungsreichen Kulturlandschaften. Da durch intensive Landwirtschaft immer mehr wertvolle Strukturen wie Hecken und Totholz verloren gingen, floh er in die Siedlungsgebiete. Hier fand das nachtaktive Stacheltier einen neuen Lebensraum, insbesondere in Gärten. Doch die voranschreitende Verdichtung schränkt den Igellebensraum ein und gefährdet ihn auch dort. Unterwegs mit Mirella Manser, die mit ihren Spürhunden Keno und Yuma Igel vor dem Bagger rettet.

Diese Igelstacheln im Behälter hat Mirella vom Igelzentrum. Sie hat sie bei ihren Einsätzen stets dabei. Schnuppert der Spürhund daran, weiss er, was er aufspüren muss. Foto: J. P. Ritler

 

Zuerst ist Keno dran. Mirella Manser hält dem 11-jährigen braunen Labrador ein Glas voll Igelstacheln hin. Sie schraubt den Deckel auf, lässt ihn schnuppern – und sofort schaut Keno sie erwartungsvoll an, er ist parat. Die Erde im verlassenen Schrebergartenareal in Emmenbrücke ist feucht und bleibt an den Stiefeln kleben. Das ganze Areal sieht verlassen aus. Die Menschen, die hier ihre Gärten seit Jahren oder gar Jahrzehnten bepflanzt und gepflegt hatten, mussten abräumen, für immer. Denn bald fahren die Bagger auf: Eine Neubausiedlung soll an dieser zentralen Lage, direkt am Bahnhof Gersag, entstehen. Die Gärtnerinnen und Gärtner hinterliessen abgeerntete Erde, Sträucher, Holzbaracken.

Hunde lieben Nasenarbeit

Spürhundeführerin Mirella Manser ist auf den Abbruch der Schrebergärten aufmerksam gemacht worden. Nach Rücksprache mit dem regionalen Igelzentrum meldete sie sich bei der Baufirma. Bei solchen Abbruch-Projekten bietet sie ihre professionelle Spürhundearbeit an: auf dem Areal nach Igeln zu suchen, bevor die Bagger auffahren. Denn Igel finden in Schrebergärten, insbesondere in den trockenen Hohlräumen zwischen Holzhäuschen und Boden oft einen geeigneten Raum für ihr Winternest. Dort schlafen sie bei auf 1 bis 5 Grad reduzierter Körpertemperatur während mehrerer Monate.

Keno ist ein alter Hase, was das Auffinden von Igeln betrifft. Von deren Spuren über den Kot bis zu Stacheln – er erschnuppert alles, auch wenn es nur schwach nach Igel riecht. In jahrelangem Training hat Mirella Manser ihren ersten Hund darauf spezialisiert.

 

Mirella und Keno: Ein gut eingespieltes Team, seit über zehn Jahren schon. Jeder Hund hat einen eigenen Charakter. Im Suchen ist Yuma zwar weniger erfahren als Keno, aber nicht weniger genau. Foto: J. P. Ritler

 

«Hunde lieben die Nasenarbeit. Und sie lassen sich auf praktisch jeden Geruch spezialisieren, der ihnen nicht widerstrebt», sagt Mirella, die inzwischen zwei weitere Hunde in ihre Familie respektive ins Team aufgenommen hat: die 2015 geborene Yuma und, ganz neu, die erst wenige Monate alte Pippa. Beide sind beim heutigen Einsatz dabei, Pippa vorerst jedoch nur als passiv Lernende. Auch ein menschlicher Helfer ist in Emmenbrücke dabei: Der Pensionär Hans Roth, der Mirella Manser und den Hunden regelmässig im Auftrag des Igelzentrums unermüdlich den Weg frei sägt oder rodet und die Igel, die sie finden, birgt.

 

Mirella mit Keno unterwegs von einem Schrebergartenhäuschen zum nächsten. Sie suchen bei allen nach Igeln. Der Hohlraum zwischen dem Häuschenboden und dem Erdboden ist bevorzugter Ort für den Nestbau. Achtung, wenn man Gartengeräte unter dem Häuschen verstaut: Man kann dabei Igel einklemmen oder verletzen. Foto: J. P. Ritler

 

Kontrolliertes Stöbern

An diesem klaren und kalten Tag Anfang Dezember ist Hans Roth extra aus Zürich nach Emmenbrücke angereist. Zusammen mit Mirella Manser und den beiden erfahrenen Spürhunden war er schon den ganzen Morgen im Schrebergarten-Gelände unterwegs. Keno und Yuma zeigten an einem Ort besonders deutlich an. Hier werden sie an diesem Nachmittag mit der Aufspürarbeit weiterfahren. Dabei sucht immer nur ein Hund aufs Mal. «Ich muss mich vollkommen auf Keno respektive Yuma konzentrieren», erklärt Manser, deshalb spreche sie während der Sucharbeit auch nicht. Keno nimmt zwischen zwei Häuschen den Duft auf – beim einen hat Roth mit der Motorsäge bereits ein Loch in die Holzlatten gesägt, aber dort verbirgt sich nach Meinung des Hundes nichts Interessantes, er schnuppert kurz und wendet sich sogleich ab. Im Häuschen daneben riecht es schon interessanter. Mirella Manser lässt ihn Boden und Wand abschnuppern – und prompt zeigt er energisch bellend an. Wenige Zentimeter weiter links oder rechts scheint ihn nichts zu interessieren. «Sie zeigen punktgenau an», sagt Manser. Etwas rätselhaft mutet der Ort schon an, denn hinter der Bretterwand ist nur Gestrüpp und darunter ist es sicher nicht durchgehend trocken. Aber Mirella vertraut der Anzeige ihres erfahrenen Partners. Sie bittet Hans Roth, ein Loch in die Wand und auch in den Boden darunter zu sägen, und bringt Keno derweil zum Ausruhen ins Auto zurück, wo er eine Box mit weichen Decken und frischem Wasser hat. Die Nasenarbeit ist für Hunde intensiv und anstrengend, «mehr als 30 Minuten am Stück lasse ich sie nicht arbeiten», sagt die Chefin im Team. Überhaupt gehe bei der Arbeit die Gesundheit und Sicherheit der Hunde vor: «Manchmal ist das Gelände gefährlich oder ich muss aufpassen, dass der Hund – komplett auf den Geruch fokussiert – nicht einfach über eine Strasse rennt», sagt Manser:

Er darf nicht in den Jagdtrieb kommen, muss stets ansprechbar sein und die Suchaktion abbrechen können.

Igelfreundlich gärtnern

Igelnester sind gut versteckt. Oft erkennt man sie nicht. Und oft sind sie für Men­schen auch nicht zugänglich – sie befinden sich in Hohlräumen im Boden oder an anderen geschützten Stellen und sind aus allerlei Materialien zusammengebaute Hau­fen. Unter Gartenhäuschen sind die Über­winterungsnester gut geschützt – vor dem Wetter und vor Dachsen, die sie mit ihren langen Krallen regelrecht zerrupfen können. Und doch sind Igel auch dort bedroht: von uns Menschen. Denn nicht selten würden Gärtnerinnen und Gärtner ihre Gerätschaf­ten im Hohlraum unter den Häuschen verstauen, nichts ahnend, dass sie dort unten Igel zerquetschen, aufspiessen oder einsper­ren, indem sie Eisenstangen, Netze, Stech­gabeln und Schaufeln darunterstossen. «Die meisten von uns wissen so wenig über die Igel», stellt Mirella Manser bedauernd fest. Der Leiter des Zürcher Igelzentrums, Simon Steinemann, bestätigt diese Einschätzung und betont, wie wichtig Aufklärungsarbeit sei: Kindergarten­ und Schulkassen können das Kompetenzzentrum besuchen und Igel­Interessierte finden auf der Website umfangreiche Informationen zum igelfreundlichen Garten. Darin steht u. a., welche Gefah­ren den Igel im Garten besonders bedrohen: rasenmähende Roboter, Fadenmäher, Laub­bläser und -­sauger, Wasserstellen mit senk­rechtem Ufer, Schneckengifte und andere Pestizide, offene Schächte und steile Trep­pen, Gitternetz­-Weidezäune mit und ohne Strom, Vogelschutznetze oder auch das Verbrennen von Asthaufen am National­feiertag. Dass Igel kaum je ihr natürliches Lebensalter von sieben bis acht Jahren er­reichen, liegt daran, dass sie oft schon nach zwei oder drei Jahren beim Überqueren von Strassen überfahren werden. Igel sind nachts äusserst bewegungsfreudig: «In der Paarungszeit können die Männchen bis zu fünf Kilometer zurücklegen», erklärt Simon Steinemann. Darum sind verbindende Durchschlüpfe für Igel so wichtig, damit sie von Garten zu Garten gelangen und nicht auf die Strasse ausweichen müssen.­

 

Hinter diesem Gartenhäuschen ist alles überwachsen – aber wird nach Keno auch Yuma anzeigen, dass sie Igelspuren in der Nase hat? Foto: J. P. Ritler

 

Vom Land in die Stadt

Einst lebte der Igel bei uns ausserhalb der Siedlungsräume in strukturreichen Kultur­landschaften, bevor landwirtschaftliche Flächen durch Meliorationen zusammenge­legt wurden und die Bewirtschaftung inten­siviert wurde. Neue Lebensräume fanden sie in den Städten. Aber jetzt wird es auch dort, wo es wegen des Verkehrs ohnehin schon gefährlich ist, zusehends ungemütlicher. Mit der Innenverdichtung werden ganze Siedlungen abgerissen und bis zu den Parzellenrändern neu bebaut, wodurch viel Grünraum verloren geht. Auch Schrebergartenareale wie jenes in Emmenbrücke sind nicht davor gefeit, werden plattgemacht und zubetoniert. Igel, die dort überwintern, werden durch die Abräumarbeiten zerquetscht oder unentdeckt «entsorgt». Ein paar von ihnen kann Mirella Manser mit ihren Spürhunden retten. Auf dem Schrebergartenareal in Emmenbrücke fand das Spürhundeteam Igelkot – genau dort, wo Keno angezeigt hatte. Mirella Manser plant bei Redaktionsschluss einen weiteren Suchtag.

 

Mit grüner Farbe hat Mirella beim ersten Tag auf dem kürzlich verlassenen Schreber­gartenareal markiert, wo ihre Hunde bereits angezeigt haben. Es braucht oft mehrere Tage, um Igel oder Nester von ihnen schliesslich zu finden – sie sind oft gut ver­krochen und die Nes­ter von blossem Auge schwer erkennbar. Foto: J. P. Ritler

 

Helfer Hans Roth sägt dort, wo Keno angezeigt hat, ein verlassenes Gartenhaus auf – und führt eine spezielle Kamera ein: Der Bildschirm bleibt draussen, die Kamera filmt am Ende eines langen Schlauchs, den er meterweit ins Innere des schmalen Bereichs zwischen Gartenhausboden und Erdboden schieben kann. Foto: J. P. Ritler

 

Ein Igel sammelt Material für den Nestbau. Foto: Alexas_Fotos

 

Ortstreue Igel

Früher lebten Igel in reich gegliederten Landschaften mit Hecken und an Waldrändern. Der Wald selbst hingegen ist nicht sein Lebensraum. Keine gute Idee ist es also, eines der herzigen Wildtiere – in der Meinung es zu retten – dort oder woanders hinzubringen, denn Igel sind ortstreu. Sie werden ihren Weg zurück suchen. Findet man einen Igel, erkundigt man sich am besten beim Igelzentrum, was zu tun ist.

 

Broschüre

Darin zeigen Fachleute, wie ein Garten aussieht, in dem sich der Igel zuhause fühlt. Bereits einzelne neu gestaltete Bereiche, beispielsweise ergänzt durch einen Heckenstreifen mit einheimischen Gehölzen sowie Ast- und Laubhaufen, bewirken schon viel.

 
 
 

Text: Esther Banz, Bilder: Jean-Pierre Ritler

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Die Natur als Lebewesen wahrnehmen