Die Asphaltknackerin

Mit der Erde fest verbunden

Isabella Sedivy kennt man als Tierfilmerin und als treibende Kraft hinter der vom SRF ins Leben gerufenen «Mission B». Die Biologin weiss, dass sie die Welt nicht retten kann. Aber Asphalt aufbrechen, das kann sie.

Text und Bilder: Judith Supper

Eine Träumerin, die mit beiden Füssen fest mit der Erde verbunden ist: Isabella Sedivy hat grosse Ziele – und tut alles, um sie umzusetzen.

 
Private Parkplätze, Hinterhöfe oder Firmenareale mit gedankenlos versiegelten Flächen sind das Ziel der Jagd.

Eigentlich ist er hübsch, der Schiffbauplatz in Zürich, so auf den ersten Blick. Linkerhand die Schiffbauhalle, geradeaus ein Geschäftshaus inklusive Restaurant, rechts schlängelt sich eine Betontreppe zur Hardbrücke empor. Eine Reihe hakenförmiger Poller zeigt Pkws, wo sie hindürfen und wo nicht. Zwischen Geschäftshaus und Schiffbauhalle erhebt sich eine wuchtige Platane, hin zum Restaurant drängelt sich eine Gruppe Gleditschien. Entstanden ist das Ensemble 2017: «Die Aussenraumgestaltung spinnt die Geschichte des Areals mit der spröden Eleganz, den grosszügigen Gesten und kraftvollen Details der industriellen Welt weiter», schreibt das ausführende Landschaftsarchitekturbüro dazu. «Sie überrascht mit Tiefgang unter Betondielen und feiner Irritation.»

 

Bis sich erste Pflanzen in den Rissen im Asphalt niedergelassen haben, dauert es nicht lange.

 

Dem Asphalt an den Kragen gehen

Irritation verspürt auch Isabella Sedivy, wenn sie den Platz betritt. Was die Architekten als «Asphalt-Oase industrieller Dimension» bezeichnen, ist für sie eine vertane Chance. Hier blühen keine Blumen. Wildbienen finden keine Nahrung, Käfer keine Versteckmöglichkeit. «Ein guter Ort, um den Asphalt zu knacken», findet sie.

Asphalt knacken. Das ist eines der Projekte, welche die 43-Jährige verfolgt. «Knacken» klingt martialisch, lässt an Gewalt, an Aufruhr denken, aber auch an Neubeginn. Probleme können knackig sein und entsprechend Nüsse, wenn sie sehr hart sind. Isabellas sanftes Wesen passt nicht zu dem harschen Wort. Sie wirkt verletzlich und gleichzeitig sehr selbstbewusst. Als Asphaltknackerin will die Biologin dem städtischen Asphalt an den Kragen gehen zugunsten von mehr einheimischem Grün. Private Parkplätze, Hinterhöfe oder Firmenareale mit gedankenlos versiegelten Flächen sind das Ziel der Jagd. Diese aufzubrechen, wasserdurchlässig und möglichst grün zu gestalten, ist die Trophäe.

 

Die Birken im Zürcher Kreis 5 leben es vor: Sie brechen den harten Stein mit der Kraft ihrer Wurzeln auf.

Wer anfängt, sich mit der Natur vor der eigenen Haustüre zu befassen, stellt fest, welche Perspektiven sich öffnen – und wie viel Freude es macht.
 

Ist das die Lösung?

Bodenversiegelung gilt als tickende Zeitbombe. Schon heute sind 34 Prozent der Stadtfläche Zürichs unter Beton und Asphalt verschwunden, informiert das Grünbuch der Stadt Zürich 2019. Laut Prognose sollen im Jahr 2040 etwa 520 000 Menschen in der grössten Stadt der Schweiz leben, ein Plus von etwa 100 000. Verdichtetes Bauen ist die Antwort auf die Urbanisierung. Doch ist es die Lösung? Eine Raiffeisen-Studie zum Schweizer Immobilienmarkt zeigt auf: Seit 2012 hat sich die durchschnittliche Schweizer Wohnung inklusive Einfamilien-haus nur leicht um 0,3 Prozent vergrössert. Doch der individuelle Platzbedarf nimmt ständig zu: Im gleichen Zeitraum ist die pro Person verbrauchte Wohnfläche um das Zehnfache gestiegen. Wo sollen da Pflanzen wachsen? Auch autogerecht müssen sie sein, die modernen Städte Schon allein deswegen würde Isabella den Besitz privater PKWs am liebsten abschaffen und stattdessen auf Carsharing-Modelle setzen. «Ein Mobility-Auto ersetzt zehn Privatautos, also Autos, die an 23 Stunden des Tages stillstehen», sagt sie. Wären all die Parkplätze frei, wie viel Lebensraum würde für Tiere, Pflanzen und den Menschen entstehen!

 

So kann es aussehen, das artenreiche Kleinbiotop inmitten der Hitze und des Strassenverkehrs der Stadt.

 

«Es hätten mehr sein können»

Wer sich in der Medienwelt, in Natur- und Umweltschutzthemen auskennt, kennt die Zürcherin gut. Sie war einer der Köpfe des Mission-B-Projekts des Schweizer Radio und Fernsehen SRF für mehr Biodiversität. In dessen Rahmen hatten Teilnehmende schweizweit von Frühjahr 2019 bis Herbst 2020 eine Fläche von zwei Millionen artenarmer Quadratmeter zugunsten der Natur aufgewertet. Die Journalistin sieht die Zahlen eher nüchtern. «Das SRF hatte vielleicht etwas zu grossen Respekt vor dem Projekt, es könnte als zu links, als zu grün beurteilt werden», sagt sie. «Wir konnten viel weniger informative Beiträge umsetzen als ursprünglich geplant.» Ihr Resümee: «Es hätten mehr als zwei Millionen Quadratmeter sein können.»

Aufgewachsen ist Isabella in Zürich Seefeld, in einer Zweizimmerwohnung, gemeinsam mit den Eltern und dem Bruder, auch er Biologe. Schon als kleines Kind empfand die schlanke Frau mit den hellen Augen eine grosse Faszination für Pflanzen, Tiere und all die verborgenen Strukturen, die diese Welten im Inneren zusammenhalten. Sie zog mutterlose Enten auf oder bastelte mit ihrem Bruder fantasievolle Gartenwelten aus Moosen und Steinen. Über alles liebte sie Tierfilme. «Tierfilmerin zu werden, war mein grosser Traum. Also habe ich Biologie studiert.»

Dann ging es Schlag auf Schlag. Dem Studium an der ETH Zürich folgte ein Praktikum an der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, danach eine Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Schliesslich wechselte sie zum SRF. Hier produzierte sie zwölf Jahre lang gemeinsam mit Andreas Moser die Naturdokumentationsreihe «Netz Natur». Mit dem geplanten Ende von Mission B und der Einstellung der Dokumentationsreihe stellte sich Isabella die Frage: Wie weiter? Die Fakten zur Biodiversitätskrise waren recherchiert, die Pflöcke gesetzt, die Seile gespannt – sie einfach zu durchtrennen, konnte das sein? Also gründete Isabella zusam-men mit ihrer Mission-B-Kollegin Bettina Walch mit Plan Biodivers eine Firma für Umweltkommunikation und -planung.

 

Ein Farn hat sich in einer Ritze angesiedelt.

 

Hitzewände zwischen Beton und Stahl

Zürich ist eine Stadt, die sich durch Glas- und Stahlfassaden definiert. Alles ist glatt, sauber und schlank, auf Höchstleistung getrimmt und irgendwie belanglos. Im Hochsommer steht die Hitze wie eine flimmernde Wand inmitten der Bürokomplexe und Autobahnzubringer. Deswegen müssen Bäume und Grünflächen her. Bis 2023 will die Stadt 1200 neue Bäume pflanzen und Grün- und Freiflächen klimaangepasst gestalten. Das macht Sinn, schliesslich sorgen begrünte Flächen und vor allem grosskronige Bäume für einen deutlich spürbaren Kühleffekt. «Aber das ist alles seit den 1980ern bekannt», sagt Isabella. «Und nichts ist passiert.» Was ihr gefällt: Dass es eigentlich für alles eine Lösung gibt, und zwar eine gute, im Einklang mit der Natur. «Sie zu finden und bekannt zu machen, ist mein Ansporn.» Dies ist ihre Waffe gegen die kognitive Dissonanz, die die Welt umtreibt, also die Kluft zwischen Anspruch und Wirk­lichkeit. Ein einfacher Vergleich: Mittlerweile weiss fast jeder, dass ein zu hoher Fleischkon­sum dem Klima und der Biodiversität schadet – aber das Grillschnitzel, das darf man sich nach einem strapaziösen Arbeitstag wohl gön­nen, Klimakrise hin oder her. Isabella ist über­zeugt: «Indem man einen Sachverhalt durch Fakten erklärt und Lösungen aufzeigt, ohne zu beschuldigen oder zu moralisieren, kann man Menschen überzeugen. Wer anfängt, sich mit der Natur vor der eigenen Haustüre zu befassen, sieht, welche Perspektiven sich öffnen – und wie viel Freude es macht.»

 

Mit Wildpflanzen wie Kleine Braunelle (Prunella vulgaris) und Gewöhnlicher Wundklee (Anthyllis vulneraria) kommen die Insekten.

In den Rissen wächst der Löwenzahn

Um Asphalt zu knacken, wird er gefräst oder aufgebrochen und später in Asphaltgranulat umgewandelt. Ein einfacher Prozess, bei dem keine unüberschaubaren Konsequenzen dro­hen. Für die Neugestaltung greift man auf Wandkies, Rasengittersteine oder Pflaster­steine zurück und lässt zwischen den Fugen Pflanzen wachsen. Es geht vor allem darum, dass der Boden geöffnet wird und die Erde atmen kann. «Aber viele Leute sind verunsi­chert», sagt Isabella. «Was, wenn man auf den Pflanzen ausrutscht oder mit schmutzi­gen Schuhen ins Haus läuft? Oder sich gar Löcher im Boden auftun?» Isabella versteht das Loch im Boden nicht als Abgrund, son­dern als Gelegenheit. «Weil sich Insekten hier Lehm für den Nestbau holen können, oder weil es Spatzen als Tränke dient. Wir haben diese Pfützen alle ausgemerzt. Dabei sind sie so wichtig.»

Auf einem Spaziergang mit der Asphalt­knackerin durch das graue, heisse Zürich er­lebt man die Stadt mit anderen Augen. Ein karger Grünstreifen, wo kratzige Blätter Vor­übergehenden in die Beine zwicken, wird zur Lebensgrundlage für Pflanzen und Tiere. Anderswo haben ein paar Birken ihren Platz beansprucht und leben vor, was Isabella be­zweckt, ähnlich den Ents in der Erzählung von J. R. R. Tolkien: Sie zerbrechen den har­ten «Stein» allein durch die Kraft ihrer Wur­zeln. Schon hat sich der Löwenzahn in den Rissen versamt. Zum Schluss führt Isabella zur «Kurve Viadukt», wo die Umgebung ei­ner Bank entsiegelt und neugestaltet wurde. Holzstämme, Findlinge, Nistmöglichkeiten für Wildbienen; ein kunterbuntes Blüten­meer und wildes Bienengesumme. So viel Leben, so viel Schönheit. So viel Potenzial.

 

Plan Biodivers

Isabella Sedivy und ihre Asphaltknackerinnen suchen nach Menschen, die asphaltierte Parkflächen gegen lebendige Orte austauschen wollen. Dazu erfolgt durch Plan Biodivers eine Beratung; die Umsetzung geschieht durch Zürcher Gartenbaufirmen. Finanziert wird das Projekt durch Gelder von «Für Züri», einem ZKB-Jubiläumsfonds, der Plan Biodivers 67 000 Franken zugesprochen hat. Eine Fläche von 50 Parkplätzen will Plan Biodivers im Raum Zürich als Sensibilisierungs- und Erfahrungsprojekt auf Ende 2023 realisiert haben.

Der städtische Hitzeeffekt

Wer genauer wissen möchte, warum mehr Biodiversität in den Städten in weniger Hit­ze mündet und kein Weg daran vorbeiführt, findet auf der Website von pro natura weitere Informationen.

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